Pastor Christian Wöbcken, Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.14, über 2. Mose 34, 4-10. Gleichzeitig Gedächtnis des 10. Todestages von Erwin Roeske.
Liebe Gemeinde!
Das kennen viele von uns sicher auch, dass alles in Scherben liegt, Beziehungen, Freundschaften, Hoffnungen, Berufs- und Lebensperspektiven, ganze Existenzen. Wie vieles ist zerbrochen in unserer Welt! Zerschlagenes Porzellan, sagen wir manch-mal.
Dem Gelähmten im heutigen Evangelium ging es so.
Erwin Roeske, an den wir heute besonders denken, ging es so im letzten Kriegsjahr 1945, als er schwer verletzt den Krieg überlebt hatte; sein einziger Bruder gefallen; sein Vater, Lehrer der Dorfschule in Kowalk in Pommern, beim Einmarsch der Russen verschleppt und ein Jahr später totgeschlagen; Mutter und Tanten, selbst die gelähmte Großmutter von den Soldaten vergewaltigt und verprügelt und alle dann aus der Heimat vertrieben.
Und Mose und dem Volk Israel ging es so beim Auszug aus Ägypten, als sie am Berg Sinai mitten in der Wüste waren und dort die 10 Gebote bekommen sollten, in denen Gott sie seiner Freundschaft versichern wollte.
Aber sie hatten alles kaputt gemacht. Als Mose zu lange auf dem Berg wegblieb, hatten sich die Israeliten einen eigenen Gott geschmiedet. Sie tanzten um das „Goldene Kalb“, ja letztlich um sich selbst – so kommt es einem mit uns Menschen oft immer noch vor – und hatten den wirklichen Gott vergessen.
Mose hatte das gesehen, als er vom Berg herabstieg, und hatte vor Wut die beiden Tafeln mit den 10 Geboten kaputtgeschmissen.
Was nun, wie soll es jetzt noch weitergehen?
In unserer alttestamentlichen Geschichte am Sinai geschieht in dieser kaputten Situation etwas Wunderbares: Wider alles Erwarten will Gott sein halsstarriges Volk auch aus dieser Sackgasse wieder herausholen. Mose darf trotz allem noch einmal auf den Berg hinaufsteigen, ja, er soll eigenhändig noch einmal zwei Steintafeln für die 10 Gebote anfertigen:
„Da hieb Mose zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren“, heißt es in unserem Text, „und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der Herr geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in die Hand.“
Und Gott begegnet dem Mose da oben tatsächlich ein zweites Mal. Trotz allem, was wir kaputt machen, bleiben wir Menschen offenbar für Gott wichtig, sagt diese Geschichte.
Und Mose nimmt all sein Vertrauen, in dieser eigentlich verfahrenen Situation all seinen Glauben zusammen und … erinnert Gott an seine Barmherzigkeit:
und dann kommen aus seinem Mund die wunderbaren Worte:
Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt, Übertretung, Missetat und Sünde.“ Und Mose neigte sich zur Erde, heißt es und sprach: Hab ich, Herr, Gnade, vor dir gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte … und vergib uns unsere Missetat und Sünde.“
Ja, Mose vertraut auf diesen Gott: dass Gott aus allem, selbst aus dem Bösesten etwas Neues und Gutes entstehen kann und will, wie Bonhoeffer es einmal formuliert hat. Er vertraut darauf, dass Gott ein barmherziger Gott ist, dem nicht daran liegt, dass alles zu Bruch geht, sondern, der heil machen, der verbinden will.
Darauf haben auch die Freunde des Gelähmten im Evangelium gehofft, dass sie bei dem Haus, in dem Jesus war, an den sie aber wegen der Menge nicht herankommen konnten, sogar aufs Dach gestiegen sind, es abgedeckt haben, und ihren behinderten Freund zu Jesus heruntergelassen haben.
Das Vertrauen auf Gott, der heil macht, kennt keine Grenze, ermuntert uns der heutige Sonntag.
Und solches Vertrauen wie Mose und die Freunde des Gelähmten hatten auch Erwin Roeske und seine alte Mutter, die hinten in unserer Kirche ihren Stammplatz hatten.
Es war die Hoffnung auf Gott, die Mutter und Sohn hier im Westen auf einen neuen Anfang vertrauen ließ. „Gott war für meine Mutter unverrückbar da“, hat Erwin Roeske mir nach ihrem Tod erzählt, und für ihn galt das sicher auch. Wenn ich zu Roeskes kam, sollte ich zunächst mit ihnen beten. Für beide war Gott so nahe wie das alte Schulhaus und die schöne Fachwerkkirche in ihrem Heimatort Kowalk in Pommern, die Bilder, die Erwin Roeske im Dezember 1949 aus der Erinnerung an die alte Heimat gemalt hatte.
Und es ist die Dankbarkeit für diesen Gott, der den beiden hier aus dem Nichts eine neue Existenz ermöglicht hatte, die Erwin Roeskes Lebenswerk bestimmte. „Ich aber hoffe auf dich, Du bist mein Gott, meine Zeit steht in Deinen Händen“, hatte der Sohn Erwin dann auch über die Traueranzeige seiner Mutter geschrieben.
Und dieses Vertrauen auf den barmherzigen Gott war letztlich auch die Motivati-onskraft, dass Erwin Roeske kein Mensch wurde, der aufgab, sondern der nach vorne blicken konnte, so dass er zusammen mit Pastor Böhmen den Versehrtensportbund gründete, sich für die Natur begeisterte, seine Schüler liebte und letztendlich so weit über die Grenze geschaut hat, dass er uns diese wunderbare Stiftung hinterlassen hat; vier Jahre vor seinem Tod, noch gerade rechtzeitig, ehe er dann an einer schweren Parkinsonkrankheit zu leiden begann.
Erwin Roeske ließ sich in seinem Vertrauen zu Gott nicht erschüttern. So wie die Freunde des Gelähmten, die einfach das Dach aufgegraben haben, unter dem Jesus zu erreichen war, so, wie Mose, der mit den neuen Gebotstafeln erneut auf den Berg ge-stiegen war und Gott an seine Barmherzigkeit erinnert hatte.
Und Gott hatte dem Mose ja geantwortet: „Siehe, ich will einen Bund schließen: vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen, und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des Herrn Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.“
Ein gnädiger Gott stellt sich hier vor. Gott der vergibt, der einen neuen Anfang ermöglicht.
Das Vertrauen von Mose ist nicht enttäuscht worden. So wie das des Gelähmten nicht enttäuscht wurde: Jesus hat auch ihm ein Heilwerden ermöglicht.
So, wie Erwin Roeske ein neuer Anfang ermöglicht wurde. Er begann, aus dem Lazarett in Norderney kommend, in Oldenburg eine Lehrerausbildung an der pädagogischen Hochschule, fand durch das Rote Kreuz seine Mutter wieder, kam schließlich als Lehrer nach Elmendorf, wohnte mit seiner Mutter viele Jahre direkt am Zwischenahner Meer in Meyerhausen, und es begann für die kleine Familie eine glückliche Zeit hier in Bad Zwischenahn. Günter W. Müller hat das in seinem Roman Zwielicht über dem See sehr schön beschrieben und Erwin Roeske ein literarisches Denkmal gesetzt.
Roeske war ein tüchtiger Lehrer mit großer Begeisterung und pädagogischer Liebe, zunächst an der Schule in Elmendorf, die nun auch seinen Namen trägt, danach in Rostrup, später an der neuen Orientierungsstufe, wo er erster Konrektor war.
Er machte keinen „Kreideunterricht“, sondern gestaltete beispielsweise den Sachunterricht so anschaulich, dass er mit den Schülern in verschiedene Handwerksbetriebe ging.
Kollegen haben ihn als begnadeten Biologen in Erinnerung. Mich selbst führte er immer voller Freude durch seinen wunderbaren Garten hinter dem späteren Haus „Unter den Eichen“. Er war begeisterter Sportler, nahm Sportabzeichen ab, fehlte bei keinem Versehrtenschwimmen.
Dabei blieb er stets bescheiden und sparsam mit seinem alten Fahrrad und seinen beiden Manchesterhosen, die er angeblich nur besaß, wie seine Kolleginnen scherzhaft meinten. Er war ein unendlich liebenswürdiger und höflicher Lehrer, und aus seinem Glauben heraus ein sehr sozialer Mensch.
Er wollte schon früh, dass Kinder unterstützt werden sollen, die aus finanziellen Gründen nicht an Schulausflügen teilnehmen konnten.
Und sein soziales Engagement sollte über seinen Tod hinausgehen, fast wie bei dem Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, dem man eine Birne mit ins Grab legte, aus der ein Baum wuchs, von dem er auch noch nach seinem Tod Kinder be-schenken konnte.
Und so ist das auch mit seiner Erwin-Roeske-Stiftung, die nun zusammen mit seinem 10. Todestag am 20. Oktober ihr zehnjähriges Bestehen feiert.
Mit der er weiterschenken wollte, was er in seinem Glauben an Gott erfahren hatte: dass Gott diejenigen nicht im Stich lässt, die sich in den Zerbrochenheiten dieses Lebens wiederfinden, sondern neue Anfänge ermöglicht.
So sollte seine Stiftung Maßnahmen bei Kriegsgräberanlagen unterstützen, Schüler bei der Aus- und Fortbildung helfen, den Versehrtensport fördern, Maßnahmen unserer Ev.-luth. Kirchengemeinde unterstützen. Und gemeinnützige Zwecke im sozialen und kulturellen Bereich hier in Zwischenahn fördern.
Wenn ich allein daran denke, wieviel Konfirmanden aus ärmeren Familien dadurch auf Freizeiten mitfahren konnten: welch wunderbarer Birnbaum ist mit dieser Stiftung aus Erwin Roeskes Grab entstanden! Auch dank der von ihm bestimmten drei Vorstandmitglieder Helmut Hülsmann, Dr. Frank Martin und Claus Ribken, die alle drei sagen: „Super, dass wir diese Aufgabe übernommen haben“. Auch nach 10 Jahren ehrenamtlicher Arbeit macht es ihnen immer noch viel Spaß und Freude, Förderungen zu vergeben. Und große Dankbarkeit erfahren sie vor allem bei der Unterstützung vieler junger Menschen. So konnten in den vergangenen Jahren 240.000 € ausgeschüttet werden, in diesem Jahr allein 50.000 €.
So wird der Name „Erwin Roeske“ heute beinahe häufiger genannt als zu seinen Lebzeiten.
Dafür danken wir Gott. Weil er uns an dem Schicksal und dem Glauben dieses einzelnen Menschen gezeigt hat, was Bonhoeffer einmal über sein Vertrauen zu Gott gesagt hat:
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Aber dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum besten dienen lassen.
Darauf zu vertrauen, lädt der heutige Sonntag auch uns ein mit seinem Leitwort: Heile du mich Herr, so werde ich heil, hilf mir, so ist mir geholfen.“
Amen.